Foto: Ingeborg König

Als Mitarbeiter*in in einer Wohngruppe oder einem ambulanten Dienst für Menschen mit geistiger Behinderung sind Sie Spezialist*in, jeden Tag und jede Woche aufs Neue. Wie Sie Zielen, die sich hinter Schlagworten wie Teilhabe oder Inklusion verbergen, mit Angeboten näher kommen, besprechen Sie im Team und mit den Klient*innen.  Hernach geht es mit großem Einsatz und Elan ans Werk.

Sie haben schon einmal festgestellt, dass Sie unzufrieden über sich selbst und über das Ergebnis Ihrer Bemühungen waren. Ihr/e Klient*in zeigte wenig Begeisterung bspw. den Pinzettengriff zu lernen und Ärger kam auf..

Wie kam es dazu? Eine Entscheidung aus der Gesamtplankonferenz (GPK)? Was ist das erstrebte Ziel? Braucht die/der Klient*in diese Fertigkeit tatsächlich im Rahmen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung?

Fragen über Fragen.

Als Unterstützer*in sind Sie oft der Gefahr ausgesetzt sich zu verlaufen oder über einem Detail den Zusammenhang aus dem Blick zu verlieren und letztendlich zu scheitern.

Zu einem förderlichen Unterstützungskontakt mit Klient*innen gehören mindestens zwei Personen. Die eine Person ist Ihr/e Klient*in, die andere sind Sie.

Zum besseren Verständnis lernzielorientierter Assistenz hat folgende Frage ein erhebliches Gewicht: Was wird das Gelingen einer Intervention mit Ihnen zu tun haben?

Zeit einmal die eigene Lernbiografie unter die Lupe zu nehmen. Das ist Ihr Schatz und den bergen Sie Stück für Stück. Es setzt Mut voraus den eigenen Lernweg zu hinterfragen und als Ergebnis in Zukunft vielleicht andere Akzente im Unterstützungsprozess zu setzen.

Nebenbei bemerkt: Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist definitiv ohne Pinzettengriff möglich.

Lernbiografie / Definition

Lernbiografie wird aus zwei Begriffen zusammengesetzt: Lernen und Biografie

Lernen bezeichnet den absichtlichen, beiläufigen, individuellen oder kollektiven Erwerb von geistigen, körperlichen und sozialen Kenntnissen und Fertigkeiten.

Ausführliche Version siehe https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/lernen-41169/version-264539, Zugriff 14.01.2021

Biografie bildet die Lebensgeschichte eines Menschen ab. Darin enthalten alle Erfahrungen, Erlebnisse und Verhalten. Diese beeinflussen unser Denken, Fühlen und Verhalten bewusst oder unbewusst.

aus Joss, H. (2006), Vom gesetzlichen Lehr- und Erziehungsauftrag zum Unterrichtskonzept, Verfügbar unter: www.hansjoss.ch/tabern5/lernbiographie.doc, letzter Zugriff: 14.01.2021

Unter Lernbiografie verstehe ich die Gesamtheit von Erfahrungen und Wissenserwerb eines jeden Mensch bis zum heutigen Tag. Wissen generiert jemand in der Schul – oder Ausbildungszeit, in der Familie durch deren Ideale und Traditionen und so nebenbei bspw. in einer Peergroup, bei Ausflügen, bei Veranstaltungen.

Die einzelnen Erfahrungen ins Verhältnis gesetzt zeigen wie Menschen sich persönlich entwickelt haben sowie ihr heutiges Lernverhalten. Die individuelle Lebensgeschichte beeinflusst die Weitergabe von Wissen oder Praktiken an andere, wie in der Arbeit mit Menschen mit Einschränkungen erforderlich ist.

Ziel von Lernbiographiearbeit

Die Lernbiografie sollte inzwischen zum Ausbildungsstandard in der Ausbildung zur/m Lehrer*in gehören. Auch für Ausbildungen zur/m Erzieher*in, Sozialpädagog*in, Heilerzieher*in?

Das Ausbildungselement bietet eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lerngeschichte. Das Ziel ist das eigene Lernverhalten zu kennen und das „Lehrverhalten“ – hier: lernzielorientiert mit Klient*innen zu arbeiten – zu reflektieren.

Es handelt sich um einen Beitrag zu Persönlichkeitsbildung sowie zur Sozial – und Selbstkompetenz. Jedoch soll nicht wie in psychotherapeutischen Zusammenhängen analysiert und gefolgert werden.

Wie wurde aus uns, was wir sind? Für was wurden wir gelobt, wofür gestraft? Wer hat uns gefördert oder behindert? Welche Entscheidungen haben wir getroffen und wie organisieren wir uns heute?

Als Pädagog*innen stehen Sie vor Klient*innen mit geistigen Einschränkungen und deren Eltern oder gesetzlichen  Betreuer*innen. Alle zusammen haben große Erwartungen an Sie und viele Anliegen. Manchmal sind diese ähnlich und manchmal gibt es gegenläufige Interessen.

Daher: Das beste Rüstzeug für die herausfordernde Arbeit ist nach meinem Dafürhalten gerade gut genug.

Ihren Schatz bergen

Probieren Sie eine Schnitzeljagd!

Auf dem Gelände ist der bisherige Werdegang als Streckenverlauf vorgegeben. Manchmal wird es leicht vorangehen und manchmal beschwerlich.

Wenn Sie den abgesteckten Weg ändern wollen, dann versuchen Sie einen anderen.

Wichtig am Anfang aufschreiben, was Sie bereits in der Schule und in anderen Lebenssituationen gelernt haben.

Sie fangen ja nicht bei Null an.

Will sagen, mit welchen Pfunden können Sie bereits wuchern?

1. Hinweis: Mehr Struktur!

Überlegen Sie

  • nach biologischen Entwicklungsschritte wie laufen und sprechen, Zahnwechsel, Vorpubertät usw.
  • chronologisch bspw. nach Intervallen von sieben Jahren
  • Meilensteine, die erreicht wurden: Ende der Grundschule, Ende der weiterführenden Schule, Ende der Ausbildung oder Studium usw.
  • Lebensbereiche – Schule, Herkunftsfamilie, Freundeskreis, Sportverein

2. Hinweis: Verwunschene Orte oder einfach draußen. Herrlich!

Orte, an denen Sie im Vorbeigehen Wissen generiert haben. Daher:

  • Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht? In der Stadt oder auf dem Land? Auf einem Berg oder auf einer Insel?
  • Wie legten Sie den Weg zur Grundschule / zur weiterführenden Schule zurück? War es eine Hürde oder ein besonderer Spaß?
  • An einem speziellen Ort oder einer speziellen Umgebung fiel Ihnen das Lernen besonders leicht.
  • Oder in einem unbekannten Umfeld, bspw. im Elternhaus Ihrer Freundin.
  • Oder auf einer Reise in ferne Länder.

3. Hinweis: Herkunftsfamilie

  • Wer gehörte zu Familie? Mutter, Vater, Geschwister, Großeltern? Wer unterstützte Sie?
  • Hatten Sie Pateneltern, die Sie förderten?
  • Durften Sie erfolgreich sein oder wurden Sie beneidet?
  • Wurden Sie ausgeschimpft, wenn Ihnen etwas nicht gelang oder Sie in der Schule eine schlechte Note bekamen?
  • Mit wem haben Sie streiten gelernt? Wenn Sie Einzelkind waren, mit wem ging das?
  • Weitere Ereignisse aus frühen Lebensjahren mit der Familie?

4. Hinweis: Schulunterricht

  • Welche Lehrperson mochten Sie und war sogar ein Vorbild?
  • War Lernen für Sie was Tolles?
  • In welcher Atmosphäre haben Sie gelernt?
  • War der Unterricht abwechslungsreich, Inhalte sinnvoll und lebensnah?
  • Welche Situation in Ihrer Schulzeit haben Sie angenehm in Erinnerung? Hatte das mit den Lehrpersonen zu tun? Oder mit den Mitschüler*innen?
  • Welche Schulfächer mochten Sie besonders? In welchen Schulfächern sind Sie „ganz zufällig gelandet“?
  • Wurde unbewusstes Lernen gefördert, nebenbei und „im Spaziergang“?
  • Gab es bedrückende und entmutigende Lernerfahrungen?

5. Hinweis: Wissen aneignen

  • Haben Sie selbständig gelernt, bspw. autodidaktisch anhand eines Übungsheftes oder eines Fachbuches? Oder waren Ihnen persönliche Anleitungen lieber?
  • Wie geht es Ihnen heute mit Aufbauanleitungen eines großen Möbelhauses? Treiben diese Sie zur Verzweiflung oder schreiten Sie mit Zuversicht eines schnellen Aufbaus an die Sache heran?
  • Hatten Sie Spaß oder gab es Komplikationen beim Lernen?

6. Hinweis: Lebenssituationen

  • Wie haben Sie Fahrrad fahren erlernt oder Schwimmen? Wurden Sie mit ermutigenden Worten fürsorglich begleitet oder wurden Sie ins Wasser geworfen?
  • Konnten Sie Interessen und Hobbys nachgehen?
  • Hatten Sie besondere Talente, die von Ihren Eltern gefördert wurden?
  • Durch welche Erlebnisse haben Sie gelernt? Bspw. beim Organisieren einer Feier für Ihre beste Freundin.
  • Gibt es ein einschneidendes Ereignis, das Sie erfolgreich durchlebt haben und das Ihnen besonders viel bedeutet?

7. Hinweis: Halt! Stopp!

Die Reflektion der eigenen Lernbiografie als Unterrichtseinheit oder in einer Teamsupervision am Arbeitsplatz könnten Sie als zu intim empfinden.

Wägen Sie ab, ob Sie von sich etwas preisgeben wollen oder nicht. Sie sind zu keiner Zeit verpflichtet Ihren Selbstschutz aufzugeben, wenn Sie das Setting als unsicher einschätzen.

Es ist professionell und ausreichend, wenn Sie neu gewonnene Erkenntnisse in Ihren beruflichen Alltag gewinnbringend einbauen. Es entsteht kein Schaden und die Klient*innen haben alle Vorteile.

8. Hinweis: Freistil

Sie haben längst festgestellt, die oben genannten Hinweise sind für Sie keine Option.

Alles klar. An Ansätzen  und Möglichkeiten sind Ihnen keine Grenzen gesetzt. Simpel überlegt und zusammengestellt schreiben Sie Fragen in einem Lerntagebuch auf, die für Sie relevant sind.

In harten Daten notieren Sie ganz klassisch Ihre Schulbildung sowie weiche Daten. Alle bilden wichtige Lernstationen und diese ordnen Sie, wie es für Sie passt.

Vielleicht lassen Sie sich mit den Antworten etwas Zeit und beantworten nicht alle Fragen hintereinander. Manchmal kommen Gefühle und Erinnerungen mit der Zeit und Ihnen fallen Bruchstücke ein, die Ihnen bedeutsam erscheinen.

9. Hinweis: Hilfreiche Vorkenntnisse

In der Vergangenheit haben Sie bereits Erfahrungen in der Wissensvermittlung gemacht, ohne diese besonders beachtet zu haben. Sie haben Nachhilfestunden gegeben oder Erfahrungen an Geschwister vermittelt. Sie haben ein Ehrenamt ausgeführt oder hatten ein Amt in einem Verein.

Hatten Sie Spaß dabei und haben sich wohl gefühlt?

Aber auch die Kehrseite: Womit waren Sie unzufrieden, was würden Sie heute anders machen wollen?

Zieleinlauf

Das Ziel ist erreicht, wenn nicht ausschließlich Episoden gesammelt werden, sondern das dahinter liegende Muster entdeckt wird. Bloße Erinnerungsarbeit wei „Weißt Du noch damals ….“ ohne Erkenntnisgewinn über Sie selbst und ohne Verknüpfung zur Arbeit mit Klient*innen ist allenfalls humoristisch, aber für den Beruf wenig sinnvoll.

Längst verschollene Talente haben Sie wieder entdeckt und einzelne Ereignisse zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Sie wissen, was Sie vermisst haben und welche Unterstützung Ihnen gut getan hat.

Sie wachsen als Persönlichkeit und erfahren nebenbei: Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen Ihrer Lernbiografie, Ihrer Berufswahl und Ihrem Erfolg im Beruf.

Für die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung ist die Reflektion mit dem eigenen Geworden sein aus meiner Sicht ohne Alternative. Die persönlichen Lernmuster und Bildungserfahrungen helfen bei dem Aufbau einer Beziehung, bspw. als Bezugsbetreuer*in, und bei der Einschätzung auf welche Art und Weise eine Unterstützung gelingen wird.

Erkenntnis des Tages

Umwege erzeugen Ortskenntnis

 

Weitere verwendete Quellen

  • Burri, Beat: Die persönliche Lernbiographie in der Lehrerbildung – In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 13 (1995) 3, S. 300-306
  • eigene Ausbildungsunterlagen